Die Plastikflut stoppen: Ringt sich die Staatengemeinschaft zu einer Obergrenze durch?


Am Wegesrand liegen alte Plastikbecher und Fast-Food-Verpackungen. Wale verhungern mit vollen Mägen, weil sie Kunststoffabfälle fressen, und sogar in unseren Hirnen finden sich Plastikteilchen. Die Umweltverschmutzung hat enorme Ausmasse: Jährlich gelangen rund 20 Millionen Tonnen Kunststoffabfälle in Ozeane, Flüsse und Seen, umgerechnet sind das jeden Tag 2000 Müllwagenladungen voller Plastik. An Land sieht es kaum besser aus.
NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.
Bitte passen Sie die Einstellungen an.
Die globale Staatengemeinschaft ist sich einig, dass es so nicht weitergehen darf. Im März 2022 verabschiedete die Umweltversammlung der Vereinten Nationen in Nairobi eine Resolution, um die Plastikvermüllung zu stoppen.
Seitdem diskutieren Vertreter von über 170 Staaten, wie sich dieses Ziel erreichen lässt. Fünfmal haben sie sich schon getroffen, letztmals im Herbst 2024 im südkoreanischen Busan, wo eigentlich verbindliche Massnahmen beschlossen werden sollten. Doch das gelang nicht. Vom 5. bis 14. August wird in Genf weiterverhandelt.
Die Deckelung der Plastikproduktion ist umstrittenDie zentrale, bisher ungelöste Streitfrage betreffe eine mögliche Obergrenze für die Plastikproduktion, teilte das Informationszentrum der Uno nach der Zusammenkunft in Busan mit. Eine Koalition aus mehr als 100 Ländern hatte eine solche Deckelung gefordert, aber Ölstaaten wie Saudiarabien und Russland sprachen sich vehement dagegen aus. Ebenfalls strittig sind Verbote von giftigen Chemikalien, die Kunststoffen zugesetzt werden.
Eine Datenbank mit 16 000 ChemikalienWie gravierend das Plastikproblem ist – und wie dringend daher ein internationales Abkommen –, zeigen zwei kürzlich im Fachjournal «Nature» erschienene Studien.
Im ersten Artikel berichten Forscher aus Norwegen und der Schweiz, dass sie über 16 000 Chemikalien zu einer Datenbank zusammengetragen haben – Chemikalien, die Kunststoffen zugesetzt werden oder als Produktionsrückstände in ihnen enthalten sind. Mindestens 4200 dieser Plastikchemikalien gefährden Umwelt und Gesundheit, bei rund 10 000 liegen noch keine Studien zur Giftigkeit vor. Das ist besorgniserregend, denn mit dem Plastikmüll gelangen die Chemikalien in die Umwelt.
Dass wir zudem die Kunststoffmenge in der Natur weit unterschätzen, deutet eine zweite «Nature»-Studie an. Sie beschäftigt sich mit Nanoplastik im Nordatlantik. Nano-Kunststoffteilchen sind kleiner als ein Tausendstel Millimeter und daher für das blosse Auge unsichtbar. Da es lange keine Messmethoden für sie gab, wurde Nanoplastik bei der Mengenabschätzung von Kunststoffen in der Umwelt bisher nicht berücksichtigt.
Allein die oberste Meeresschicht enthält sehr viel NanoplastikDusan Materic forscht an der Universität Utrecht und dem Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung UFZ in Leipzig; Sophie ten Hietbrink arbeitet gegenwärtig an ihrer Doktorarbeit an der Universität Stockholm. Gemeinsam leiten sie ein Team, das jetzt Nanoplastik in Wasserproben aus dem Nordatlantik analysiert hat.
Aus den Messdaten folgt, dass allein die oberste, bis zu 200 Meter tiefe Wasserschicht des Nordatlantiks 27 Millionen Tonnen Nanoplastik enthalten könnte. Bislang wurde die gesamte Plastikmenge in allen Meeren auf insgesamt «nur» 200 Millionen Tonnen geschätzt. Die neue Studie deute darauf hin, dass Nanoplastik den grössten Anteil am Massenhaushalt von Kunststoffen im Meer ausmache, resümieren die Forscher in «Nature».
Bevor die Verschmutzung der Ozeane neu berechnet werden kann, müssen die Wissenschafter allerdings noch ein Rätsel lösen: Sie fanden im Nordatlantik zwar Nanoteilchen aus Polyethylenterephthalat (kurz PET), Polystyrol (PS) und Polyvinylchlorid (PVC), allesamt gängige Kunststoffe, etwa für Flaschen, Folien und Einweggeschirr.
Doch Nanoplastik aus den weltweit häufigsten Kunststoffen Polyethylen (PE) und Polypropylen (PP) entdeckte das Team um Materic und ten Hietbrink nicht. Das Fehlen ist den Forschern schleierhaft, zumal an der Meeresoberfläche viel Müll aus diesen beiden Kunststoffsorten schwimmt. Einen Messfehler, zum Beispiel eine Störung durch andere Stoffe in der Probe, hält Materic für unwahrscheinlich. In schwedischen Seen sowie in polarem Meereis hat er Nano-PE und Nano-PP zuvor schon nachgewiesen.
Um das Mysterium im Nordatlantik aufzuklären, müsse man weitere Messungen in allen Wasserschichten sowie im Sediment durchführen und zudem die Bildung und den Abbau von Nanoplastik näher untersuchen, meint Materic.
Die Plastikflut wächst exponentiellForschungsbedarf besteht auch in Sachen Böden, denn hier dürften sich ebenfalls grosse Mengen der klitzekleinen Kunststoffteilchen befinden. Nanoplastik gilt als besonders bedenklich, da die Partikel über die Nahrungskette in den menschlichen Körper gelangen und wegen ihrer Winzigkeit in unsere Zellen eindringen können. Was sie dort anrichten, ist zwar noch unklar. Aber allein die Tatsache, dass sich Kunststoffe mit der Zeit in der Umwelt und wahrscheinlich auch im Körper anreichern und nur langsam abgebaut werden, erfordert schnelle Massnahmen gegen die Plastikflut. Denn die steigt exponentiell.
Die Industrie produziert jährlich mehr als 400 Millionen Tonnen Kunststoffe, grösstenteils aus Erdöl. Vor 25 Jahren war die Menge etwa halb so gross, bis 2050 könnte sie sich verdoppeln. Mehr als ein Drittel des weltweit produzierten Kunststoffs wird für Verpackungen benötigt. Daher sind Alternativen und Einsparpotenziale leicht vorstellbar, etwa Papier statt Plastik, mehr Pfandbehälter, dünnere Folien oder schlichtweg weniger Verpackungen. Zudem sind etliche Dinge wie billiges Plastikspielzeug, Wegwerfmode und Einweggeschirr entbehrlich.
Das sehen Länder wie China, Iran, Russland und Saudiarabien anders. Ihre Wirtschaft hängt von der Erdölförderung oder der Kunststoffproduktion ab. Statt die Produktion zu beschränken, wollen sie den Umgang mit Abfällen in den Mittelpunkt rücken. Derzeit wird weltweit weniger als ein Zehntel des Plastikmülls rezykliert, und das in der Regel zu minderwertigem Material. Eine bessere Quote wäre wünschenswert, ist aber schwer zu erreichen.
Recycling löst das Problem nichtMan könne sich aus der Plastikkrise nicht «herausrezyklieren», unterstreicht das deutsche Umweltministerium in einem Hintergrundpapier zu den Uno-Verhandlungen. Haushalte in Deutschland sammeln seit Jahrzehnten Verpackungsmüll in gelben Säcken oder Tonnen, doch ein Kreislaufsystem, das hochwertige Recyclingkunststoffe liefert, gibt es in der Bundesrepublik immer noch nicht.
Daran werden auch die von der Industrie propagierten chemischen Recyclingverfahren, die die mechanische Wiederaufbereitung ergänzen sollen, so schnell nichts ändern. Sie funktionieren erst ansatzweise in kleinen Anlagen, erfordern je nach Technik viel Energie oder Lösemittel und eignen sich zudem nicht für alle Kunststoffe.
Selbst ein perfektes Sammel- und Recyclingsystem wird nicht verhindern, dass Plastik in die Umwelt gelangt, etwa durch den Abrieb von Reifen. Daher ist es höchste Zeit für neue Materialien, die zwar stabil sind, sich in der Natur aber trotzdem abbauen und vor allem keine Gifte freisetzen.
Bei der Entwicklung alternativer Materialien hilft die in «Nature» vorgestellte Datenbank. Viele der gelisteten 16 000 Plastikchemikalien erfüllen dieselbe technische Funktion. Sie sind aber nicht alle giftig, so dass sich schon heute bestimmte besorgniserregende Chemikalien durch harmlose ersetzen lassen. So geschieht es zum Beispiel in Europa im Fall von gesundheitsschädlichen Weichmachern.
Wenn sich die Staatsvertreter in ein paar Tagen in Genf treffen, wird es an Lösungsvorschlägen nicht mangeln, eher an politischem Willen. Wie das Bundesamt für Umwelt in Bern mitteilt, setzt sich die Schweizer Delegation dafür ein, dass die Massnahmen den Staaten genügend Flexibilität geben, um auf die unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Realitäten einzugehen – die Massnahmen sollen aber trotzdem ausreichen, eine substanzielle Reduktion der Verschmutzung durch Kunststoffe zu erzielen. Man kann nur hoffen, dass der Spagat gelingt.
nzz.ch