In vielen Ländern ist die Suizidrate deutlich zurückgegangen – in den USA dagegen gestiegen


Illustration Anja Lemcke / NZZ
Weltweit sank die Suizidrate zwischen 1990 und 2021 um fast 30 Prozent. Zu Beginn des Beobachtungszeitraums begingen 10,33 Menschen von 100 000 Suizid, gut 30 Jahre später waren es 7,24. Das ergab die Auswertung einer Datenbank der Weltgesundheitsorganisation durch ein internationales Team.
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Wenn Sie selbst Suizidgedanken haben oder jemanden kennen, der Unterstützung benötigt, gibt es verschiedene Hilfsangebote:In der Schweiz können Sie die Berater der Dargebotenen Hand rund um die Uhr vertraulich unter der Nummer 143 erreichen.In Deutschland finden Sie entsprechende Hilfe bei den Beratern der Telefonseelsorge, online oder telefonisch unter der Nummer 0800 / 1110111.
Die Zahlen sind eine generelle Aussage für die ganze Bevölkerung. Schaut man auf einzelne Gruppen, so werden deutliche Unterschiede sichtbar. So begehen Männer 3,6-mal häufiger Suizid als Frauen. Bei über 65-Jährigen beenden mehr als 11 Menschen von 100 000 ihr Leben.
Und es gibt Länder mit einer bedrückenden Entwicklung. So stieg entgegen dem globalen Trend die Suizidrate in den USA zwischen 2000 und 2020 um knapp 30 Prozent. Dies ist laut Experten auf einen stetig steigenden Anteil an Selbsttötungen durch Schusswaffen zurückzuführen. Deren Verbreitung hat deutlich zugenommen.
Der Rückgang der weltweiten Suizidrate zeige, dass die Massnahmen zur Prävention wirkten, erklärt Ute Lewitzka, Professorin für Suizidologie und Suizidprävention an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt, im Gespräch. Da in vielen Ländern der Anteil älterer Personen seit Jahren wachse, sei aus demografischen Gründen eigentlich eine Zunahme zu erwarten.
Die wirksamsten Präventionsmassnahmen«Es klingt vielleicht banal, aber besonders wichtig ist es, die Möglichkeiten einzuschränken, Suizid zu begehen», betont Lewitzka. Die landläufige Annahme, dass sich die Verzweifelten dann andere Möglichkeiten suchten, stimme nicht.
Viele Selbsttötungen geschehen in einer schweren Krise. Die Menschen sind von akuten Schwierigkeiten völlig überfordert. Sie befinden sich in einer Art Tunnel, sind fokussiert auf das akute Geschehen. Funktioniert in diesem Moment die von ihnen ausgedachte Methode nicht, dann weichen sie in der Regel nicht auf eine andere aus.
Sehr effizient sind daher Bauwerksicherungen. Brücken oder andere hohe Bauwerke werden zunehmend mit Netzen versehen oder anderweitig umgestaltet. Ebenso wichtig sei der erschwerte Kauf von Giften, betont die Präventionsexpertin. In Asien geschehe jeder fünfte Suizid durch Vergiftung mit Pestiziden oder Düngemitteln. Als im Rahmen einer Studie in einigen Geschäften die Produkte nur noch nach einem Gespräch mit einem Mitarbeiter abgegeben worden seien, sei in der Region die Suizidrate um 60 Prozent gesunken.
Zusätzlich zu den diversen Hürden wurde in vielen Ländern auch eine Vielzahl von Beratungsangeboten geschaffen. Lewitzka ist überzeugt, dass auch dies zum Beispiel in Deutschland zu dem beobachteten Rückgang der Suizide erheblich beigetragen hat. Besonders hilfreich seien zum einen niedrigschwellige Angebote wie Telefonseelsorge, aber auch psychosoziale Krisendienste.
Zum anderen ist es wichtig, dass Hausärztinnen und -ärzte darin geschult sind, Depressionen zu erkennen. Auf der schwedischen Insel Gotland sank dadurch die Suizidrate um 60 Prozent. Denn Depressionen und andere psychische Erkrankungen sind bedeutende Risikofaktoren für eine Selbsttötung, vor allem in wohlhabenden Ländern.
Lasse Sander vom Institut für Medizinische Psychologie der Universität Freiburg im Breisgau ermuntert in einer Stellungnahme gegenüber dem Science Media Center Germany auch Laien, sich um Mitmenschen zu kümmern: «Fragen nach vermuteten Suizidgedanken führen weder zu einer Verstärkung derselben noch wird hierdurch Suizidalität überhaupt erst ausgelöst. Wenn Sie sich Sorgen um eine Person machen, ist es hilfreich, diese Person konkret auf mögliche Suizidgedanken anzusprechen.»
Trotz allen Erfolgen der Prävention: Die absolute Zahl an Selbsttötungen bleibt erschreckend. Weltweit starben 2021 schätzungsweise 727 000 Menschen daran. Bedrückend ist auch die hohe Zahl an Suizidversuchen. Auf eine Person, die sich das Leben nimmt, kommen schätzungsweise zehn bis zwanzig, die den Versuch überleben. Und schon gar nicht kaltlassen kann einen die Tatsache, dass weltweit Suizid bei den 15- bis 29-Jährigen die vierthäufigste Todesursache ist.
In der Schweiz starben in den letzten fünf Jahren jeweils um die 1000 Menschen, in Deutschland 10 000 durch Suizid. In der Bundesrepublik halbierte sich die Rate sogar fast, sie sank von 14,25 (1990) auf 7,83 (2020). Doch immer noch sterben dort mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten, illegale Drogen und Aids zusammen.
In Deutschland wie auch der Schweiz nahm – ebenso wie beispielsweise in Belgien, den Niederlanden oder Kanada – zuletzt die Zahl der assistierten Suizide zu. Da diese in Deutschland in den Statistiken nicht separat ausgewiesen werden, gehen Experten davon aus, dass der leichte Anstieg seit 2020 zu einem grossen Teil darauf zurückzuführen ist. Welchen Einfluss die Corona-Pandemie hatte, ist unklar.
Höhere Suizidrate in reicheren LändernAuf den ersten Blick erstaunlich erscheint die Aussage der neuen Studie, dass die höchste Suizidrate in Europa festgestellt wurde. So betrug 2021 im sogenannt alten Kontinent die Rate 8,9, in Afrika hingegen 3,01. Ein Teil des grossen Unterschieds könne durch eine unsichere Datenlage erklärt werden, schreiben die Autoren. Denn vor allem in Afrika, aber auch generell in ärmeren Ländern sei die Datenerfassung unzuverlässig.
Zudem ist der Freitod in manchen Ländern nach wie vor verboten, und es droht eine Strafe bei Versuchen. Die Gesetzeslage sowie kulturelle und religiöse Faktoren führen dazu, dass ein Suizid vielerorts mit einem grossen Stigma behaftet ist. Dementsprechend gibt es je nach Land eine gewisse Dunkelziffer. Dies gilt nicht nur für ärmere Länder.
Dass Europa den unrühmlichen Spitzenplatz belegt, liegt jedoch nicht nur an der zuverlässigeren Datenerfassung. Bereits frühere Analysen hätten gezeigt, dass reichere Länder eine höhere Suizidrate aufwiesen, sagt Lewitzka. Das gelte auch für Südkorea und Japan in Asien oder die USA und Kanada in Amerika.
Zwar habe jedes Land spezielle Gegebenheiten. Aber offenbar erhöhe der westliche Lebensstil die Suizidrate. Das liege vermutlich daran, dass diese Lebensweise mit einem geringeren gesellschaftlichen wie familiären Zusammenhalt, vermehrter Einsamkeit sowie einem höheren Erfolgsdruck verbunden sei. Möglicherweise sinnierten die Menschen auch zu viel über ihre Lebensumstände und die Krisen dieser Welt, manche verzweifelten dann daran. Experten weisen darauf hin, dass in der Regel mehrere Faktoren zu Suizidalität führten.
Die Autoren der neuen Analyse haben auch einen Blick in die Zukunft gewagt. Gemäss ihren Modellierungen wird die Suizidrate weltweit weiter sinken. Das gelinge jedoch nur, wenn weiterhin und – angesichts der zunehmenden Krisen und Katastrophen – verstärkt in Prävention investiert werde, meint Lewitzka.
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