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INTERVIEW - «Wir könnten längst in einer Welt ohne Tuberkulose leben», sagt Bestsellerautor John Green

INTERVIEW - «Wir könnten längst in einer Welt ohne Tuberkulose leben», sagt Bestsellerautor John Green
Schatten auf der Lunge: Im Röntgenbild wird das Ausmass einer Tuberkulose sichtbar.

Der Amerikaner John Green, Jahrgang 1977, ist einer der erfolgreichsten Jugendbuchautoren weltweit. Bekannt wurde er 2012 mit seinem vierten Buch, «Das Schicksal ist ein mieser Verräter», das auch verfilmt wurde. Zusammen mit seinem Bruder Hank betreibt er zudem einen der erfolgreichsten Videoblogs auf Youtube. Ihr Kanal «Vlogbrothers», eine Mischung aus Unterhaltung und nerdiger Wissenschaftsvermittlung, verzeichnet mehr als 3,8 Millionen Abonnenten auf Youtube. Seit einer Reise nach Sierra Leone im Jahr 2019 hat sich Green der Bekämpfung der Tuberkulose verschrieben, für die er seither über 30 Millionen Dollar Spenden gesammelt hat. Sein Buch «Tuberkulose. Es ist Zeit, die tödlichste Infektion der Welt zu besiegen» ist kürzlich in deutscher Übersetzung erschienen.

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John Green, im Jahr 2023 sind mehr als eine Million Menschen weltweit an Tuberkulose gestorben, mehr, als an Malaria, Typhus und Kriegsfolgen zusammengenommen gestorben sind. Gleichzeitig scheint die Infektion im Westen keine Rolle zu spielen. Wollen wir den Ernst der Lage nicht sehen?

Auch ich dachte lange, dass Tuberkulose ein Relikt aus der Vergangenheit ist, doch ein Viertel aller Menschen weltweit ist infiziert. Ohne Zweifel läuft also einiges falsch, wenn wir diese Tatsache ignorieren und gleichzeitig so tun, als sei jedes Menschenleben gleich viel wert. Wir könnten längst in einer Welt ohne Tuberkulose leben, aber es scheint, als ob wir das gar nicht wollen.

«Tuberkulose ist eine der Krankheiten, die auf Ungerechtigkeit basiert»: Jugendbuchautor John Green.

Ein WHO-Bericht zeigt, dass die Tuberkulosefälle bei Kindern unter 15 Jahren in Europa im Jahr 2023 um 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen sind.

Wenn die Zahlen steigen, bedeutet das, dass sich viele weitere Menschen anstecken – von denen wir jedoch erst mal nichts wissen. Denn Tuberkulose überträgt sich hauptsächlich über Aerosole, also kleinste Tröpfchen, die beim Husten, Niesen oder Sprechen weitergegeben werden. Jeder von uns ist also gefährdet. Das ist gruselig, vor allem, weil diese Zahlen weiter massiv steigen werden, nachdem Donald Trump die amerikanische Behörde für Entwicklungszusammenarbeit USAID zerschlagen hat.

Mit dem Ende der US-Entwicklungshilfe verlieren viele Länder Milliarden Dollar. Bezahlt wurden damit nicht nur Medikamente und Ärzte, die Kürzungen betreffen auch die Erhebung von Daten zu Infektionsherden.

Korrekt. Hinzu kommt, dass Trump die Unterstützung so überstürzt eingestellt hat, dass die Behandlung von Hunderttausenden jäh unterbrochen wurde. Viele dieser Patienten werden nun mit grosser Sicherheit sterben, gleichzeitig wird sich die Antibiotika-Resistenz der Erreger weiterentwickeln. Denn mancher Bakterienstamm ist von vornherein resistent gegen die Wirkstoffe, andere Resistenzen entwickeln sich erst, wenn die Behandlung nicht vollständig abgeschlossen wird.

Welche Länder sind gegenwärtig besonders betroffen?

Etwa die Hälfte aller weltweiten Fälle stammt aus Nigeria, den Philippinen, Indonesien und Indien – dort liegt das Epizentrum der globalen Tuberkulose-Krise. Es gibt jedoch deutlich mehr Infizierte, denn bis zum Ausbruch der Krankheit dauert es ein paar Jahre.

Wie lässt sich Tuberkulose behandeln?

Die neueste Therapieform sieht die tägliche Gabe von Antibiotika über einen Zeitraum von vier bis sechs Monaten vor. Viele Betroffene müssen die Medikamente aber länger nehmen. Die grösste Herausforderung ist, die jeweilige Tuberkulose-Form und ihre Resistenzen zu identifizieren. Ein Grund, warum die Behandlung so kompliziert ist: Zwischen 1966 und 2012 wurden keine neuen Medikamente mehr entwickelt. Erst in den vergangenen Jahren wurde weiter geforscht, doch ob die neuen Mittel auf den Markt kommen, ist fraglich, denn die Finanzierung vieler Projekte steht vor dem Aus.

Wie sieht es mit den Heilungschancen aus?

Tuberkulose ist bereits seit Mitte der fünfziger Jahre heilbar, die Genesungsrate könnte bei bis zu 95 Prozent liegen. Aber es dauert lange, bis sich Besserung einstellt, dafür muss man jeden Tag Antibiotika nehmen. Das Problem: Viele Patienten haben nicht die Möglichkeit, über Monate an Antibiotika zu kommen, und für die tägliche Anreise in die Klinik fehlt das Geld und jobbedingt oft die Zeit. Viele müssen ausserdem unter ärztlicher Beobachtung stehen, damit man feststellen kann, ob die gewählte Behandlungsform auch die richtige ist.

Wenn eine Resistenz die Behandlung so kompliziert macht: Bedeutet das, dass man schnell handeln muss?

Ja. Für Kinder gibt es leider keine guten Tests, aber bei Erwachsenen kann eine Resistenz innerhalb weniger Stunden mit dem Test «Genexpert» festgestellt werden – dessen Kartuschen allerdings sehr teuer sind. Nicht weil sie aus Gold wären, sondern weil es das amerikanische Pharmaunternehmen Danaher so will.

Danaher hat 2023 einen Umsatz von mehr als 31 Milliarden Dollar gemacht.

Wir leben in einem System, in dem Unternehmen die Verpflichtung haben, ihren Aktionären ausreichend Profit zu garantieren. Es braucht also mehr Anreize, um sich auch um die Gesundheit der Menschen weltweit zu kümmern, und darüber hinaus deutlich mehr öffentliche Gelder.

Unter dem Hashtag #everythingistuberculosis macht sich John Green in den sozialen Medien auf die Suche nach originellen Belegen für seine These, dass die Krankheit alle Menschen angeht.

Gibt es Risikofaktoren, die besonders anfällig für Tuberkulose machen?

Ja, etwa Diabetes, Autoimmunerkrankungen und HIV-Infektionen, aber auch Luftverschmutzung und Unterernährung. Letzteres gilt für die Hälfte aller Patienten. Gleichzeitig wissen wir aber nicht, warum die Krankheit bei dem einen ausbricht und beim Nächsten nicht; warum manche wieder gesunden und andere nicht. Wir verstehen nicht einmal, warum die Mehrheit der Menschen, die eine Infektion bereits in sich trägt, nie daran erkranken wird. Auch ist der Verlauf unvorhersehbar. Aber machen wir uns nichts vor: Ein Grund, warum jemand heute an Tuberkulose stirbt, ist Rassismus.

Wie meinen Sie das?

Tuberkulose ist eine der Krankheiten, die auf Ungerechtigkeit basiert, so wie Diabetes, Malaria und sogar Krebs. Viele Jahre glaubten wir im Westen, dass sie nur Weisse befallen kann. Deswegen haben wir sie in der kolonialisierten Welt ignoriert; auch deshalb sind die Raten in diesen Ländern bis heute so extrem hoch. Tuberkulose ist eine Krankheit der Armut, die Menschen noch ärmer macht.

In der Schweiz empfiehlt das Bundesamt für Gesundheit eine Impfung gegen Tuberkulose nur für Kinder unter 12 Monaten, die dauerhaft in einem Land mit hoher Inzidenz leben werden. Wäre das angesichts steigender Zahlen weltweit auch andernorts sinnvoll?

Bis jetzt schützt die Impfung nur Kinder bis fünf Jahre vor besonders schweren Formen, die meist tödlich verlaufen. Für den Rest der Menschheit greift sie nicht.

Sie sagen, wir könnten längst in einer Welt ohne Tuberkulose leben. Was müsste passieren, damit es so kommt?

Das wissen wir bereits sehr genau, schliesslich haben wir das Risiko einer Erkrankung in der westlichen Welt bereits um 99 Prozent reduziert. Bei Tuberkulose gelten drei Schritte: «suchen, behandeln, vorbeugen». Zunächst muss man also nach aktiven Infektionen suchen, denn wenn die Menschen krank im Spital auftauchen, ist es zu spät – dann haben sie die Krankheit schon weitergegeben. Hat man die Infizierten gefunden, muss man sie vorsorglich behandeln ­– und auch diejenigen, mit denen sie zuvor zusammen waren.

Für Ihr Buch haben Sie auch Kurioses zusammengetragen. Etwa die Tatsache, dass es den Cowboyhut ohne Tuberkulose wohl nie gegeben hätte.

Im 19. und 20. Jahrhundert hielt man trockene Luft für die beste Kur gegen Tuberkulose. Nachdem John B. Stetson, ein Hutmacher aus New Jersey, daran erkrankt war, wurde ihm geraten, in den Westen der USA zu ziehen, wo die Luft trockener ist. Als er in Missouri ankam, fiel ihm auf, dass die Menschen für das örtliche Wetter unpassend gekleidet waren: Die Mützen aus Waschbär-Fell waren verlaust, die Strohhüte schützten nicht vor Regen, also erfand er den Cowboyhut.

Als «Schwindsucht» bekannt, wurde die Krankheit einst sogar romantisiert. Wie konnte es dazu kommen?

Weil so viele berühmte und mächtige Menschen daran starben, etwa Franz Kafka, die Brontë-Schwestern oder Simón Bolívar. Man musste also etwas gegen das schlechte Image tun, daher wurden Betroffene zum Inbegriff der Schönheit und des Intellekts stilisiert.

Mit «Das Schicksal ist ein mieser Verräter» wurden Sie als Autor international bekannt. Wie kamen Sie darauf, nun über Tuberkulose zu schreiben?

2019 lernte ich auf einer Reise durch Sierra Leone einen jungen Mann namens Henry kennen, der gegen eine multiresistente Tuberkulose kämpfte. Über Jahre musste er sich anhören, dass es sich finanziell nicht lohne, ihn mit den neuesten Medikamenten zu behandeln, deshalb schluckte er mehr als 20 000 Tabletten, bevor man den Verlauf in den Griff bekam. Seine Geschichte liess mich nicht mehr los und veranlasste mich, ein Buch über ihn und diese schreckliche Krankheit zu schreiben. Trotz allem, was ich über Tuberkulose weiss, versuche ich, optimistisch zu bleiben. Wir stehen aktuell am Scheitelpunkt für bessere, kürzere Behandlungsformen. Wenn ich mir ansehe, wie viel im Kampf gegen Covid-19 weltweit investiert wurde, gibt es mir Hoffnung, dass wir Ähnliches auch hier schaffen.

John Green: «Tuberkulose. Es ist Zeit, die tödlichste Infektion der Welt zu besiegen.» Hanser, 2025. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz.

Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»

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