Die letzte Erdbeere, die nach Erdbeere schmeckt


Endlich erhält man wieder Erdbeeren, die nicht gekaut werden müssen. Heimische Früchte sind seit einigen Tagen auf dem Markt, für mindestens 10 Franken das Pfund. Das ist ein stolzer Preis im Vergleich zur Ramschware aus Spanien, Griechenland und Marokko, die schon seit dem Winter in den Supermärkten feilgeboten wird.
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Die Früchte aus heimischem Anbau schmecken einigermassen nach Sommer. Einen unverwechselbaren Genuss bieten allerdings auch sie nicht. Den frühen Früchten fehlt, was einmal selbstverständlich war: ein intensives Erdbeeraroma.
Erdbeeren, die nach Erdbeeren schmecken, erhält man heute nur noch selten. Stattdessen beherrschen ertragreiche, haltbare und widerstandsfähige Sorten den Markt, die ein paar Tage Transport und Lagerzeit überstehen. Sie tragen Etiketten wie Clery oder Gariguette, aber ihrem Namen Fragaria (von lateinisch fragrare, duften) werden sie immer seltener gerecht.
Die Zucht hat Erdbeeren in rote Wasserbomben verwandelt. Trotzdem finden sie jedes Jahr ihre Käufer. Rund 7000 Tonnen werden in der Schweiz angebaut, 16 000 Tonnen werden importiert, vor allem aus Spanien, wie die Forschungsstelle für Landwirtschaft Agroscope mitteilt. Die Verbraucher greifen zu: Hauptsache, die Früchte glänzen samtig und leuchten wunderbar hellrot.
Hobbygärtner schwören hingegen auf eine Sorte, die das intensive Erdbeeraroma zu konservieren vermochte. Die Rede ist von Mieze Schindler, der vielleicht letzten Erdbeere mit Geschmack. Die Liebhabersorte stammt aus dem Zuchtprogramm von Otto Schindler, einem Gartenbaulehrer aus Pillnitz bei Dresden. Vor hundert Jahren kreuzte er aus den geschmacklich unauffälligen Sorten Lucida Perfecta und Johannes Müller die Aromabombe. Sie schmeckt wie die Walderdbeere, nur noch süsser. Der Sorte gab er den Kosenamen seiner Frau: Mieze.
Erdbeeren sind DivenDoch mit der Mieze gibt es ein Problem: Sie übersteht kaum den Weg vom Garten in die Küche. Schon kurz nach dem Pflücken wird die dunkelrote Sorte matschig. Zudem bringt sie nur kleine Früchte hervor, und der Ertrag ist gering. Die hohe Druckempfindlichkeit der Mieze Schindler verhindert, dass sie transportiert oder gar gelagert werden kann. Für den kommerziellen Anbau kommt sie daher nicht infrage. Wer sie kosten will, muss sie selbst im Garten anbauen.
Die Divenhaftigkeit ist allen Erdbeeren angeboren. Fragaria gehört zum Weichobst und ist eine der empfindlichsten Obstarten. Pilzerkrankungen sind gefürchtet, deshalb sollte die Pflanze an einem sonnigen Standort mit lockerem, tiefgründigem und humusreichem Boden angebaut werden. Staunässe mag sie überhaupt nicht.
Die Erdbeere reift nicht nach und ist grundsätzlich schlecht lagerfähig. Deshalb lässt sie sich ungern über weite Strecken transportieren, schon gar nicht wie Apfel oder Blaubeere über Ozeane. Die Erdbeere ist zu weich für die Welt. Deshalb gehört sie zu den wenigen Früchten, die noch Saison haben. Und schmeckt am besten, wenn sie vor Ort geerntet wird.
Botanisch gesehen ist die Erdbeere keine Beere, sondern wie der Apfel ein Rosengewächs. Sie wird zu den Sammelnussfrüchten gezählt, diese bilden Scheinfrüchte aus. Die tatsächlichen Früchte sind die kleinen gelblichen Nüsschen an der Oberfläche der Frucht. Alle Erdbeersorten aus dem Erwerbsanbau sind Nachkommen der Gartenerdbeere, die 1750 aus zufälliger Kreuzung entstand.
Möglich machte das der französische Kapitän, Spion und Hobbybotaniker Amédée-François Frézier, der die grossfruchtige, weisse Chile-Erdbeere in geheimer Mission mit nach Hause gebracht hatte. Aus dieser Frucht und der aus Amerika stammenden Scharlach-Erdbeere, die schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts ihren Weg nach Europa fand, entstand Fragaria ananassa, die heutige Kultur- oder Gartenerdbeere.
Der Geschmacksverlust der Kulturerdbeere ist eine Folge konzentrierter Zucht. In den vergangenen Jahrzehnten fokussierten sich die Züchter auf Ertrag, Haltbarkeit und Transportfähigkeit. Das Ziel waren Sorten, die hohe Ernten abwerfen und mehrere Tage im Lastwagen oder im Supermarkt überstehen, bevor sie verzehrt werden. Der Geschmack blieb dabei auf der Strecke.
Das Ergebnis einer genetischen ErosionKlaus Olbricht hat sich vorgenommen, das zu ändern. In Dresden-Weixdorf betreibt der Wissenschafter Erdbeerzucht von Weltformat. 2008 erbte er die grösste lebende Erdbeer-Wildartensammlung Europas und damit die Grundlage für sein Zuchtprogramm. Im gleichen Jahr wurde das Unternehmen Hansabred gegründet. Seine Mission: endlich wieder Geschmack in die Erdbeere bringen. Nur wie?
Heute gedeihen 300 Sorten und Wildarten aus mehr als 900 Herkunftsgebieten auf seinem Firmengelände. Eines lernte Olbricht schnell: Aroma und Haltbarkeit schliessen sich aus. Ein Vierteljahrtausend Zucht habe zu einer genetischen Erosion geführt, erklärt Olbricht. 30 Prozent der Allele der Kulturerdbeere seien nicht mehr nachweisbar. Sein Ziel ist es deshalb, alte und wilde Sorten einzukreuzen, um den Genpool wieder zu erweitern. Geschmacksvorbild von Hansabred war eine Erdbeere, die Jahrzehnte zuvor am anderen Ende Dresdens gezüchtet wurde: die Mieze Schindler eben.
Zusammen mit dem Aromaforscher Detlef Ulrich nahm Olbricht seinerzeit die Mieze auseinander und fand einen besonderen Stoff: Methylanthranilat. Der Ester lässt sich schon in geringen Konzentrationen riechen. Er verleiht der Erdbeere ihren unverwechselbaren blumig-fruchtigen Geschmack, wie man ihn von Walderdbeeren kennt. In modernen Sorten hingegen ist der Stoff weitgehend verschwunden, denn Methylanthranilat vererbt sich schlecht. Auch deshalb schmecken die Sorten oft fad und wässrig.
Moderne Sorten leiden aber nicht nur unter dem Verlust von Estern, auch andere Aromastoffe wurden mit der Zeit weniger. Darunter sind vor allem Lactone und Terpenoide, die als süsse Verstärker gelten und der Erdbeere den frischen Geschmack von Zitrone beziehungsweise Pfirsich verleihen. 900 chemische Substanzen sind bei der Erdbeere insgesamt nachgewiesen, aber nur 30 sind wahrnehmbar. Jeder einzelne Aromastoff schmeckt anders. Nur zusammen ergeben sie das unverwechselbare Erdbeeraroma.
Die Domestikation der Kulturerdbeere treibt Züchter regelmässig fast in den Wahnsinn. Olbrichts Programm umfasst mittlerweile sechs Sorten, darunter Lola, Rendezvous, Renaissance oder Snow White, eine weisse Erdbeere. Er musste weit im Stammbaum zurückgehen, um das Aroma wieder einzukreuzen. Dazu verwendete er alte Sorten oder Wildarten wie die Chile-Erdbeere. Auch die Mieze kreuzte er ein, musste aber bald feststellen, dass man daraus zwar sehr leckere Früchte erhält, aber keine Hochleistungssorten. «Ertrag, grosse Früchte und lange Haltbarkeit wird die Mieze niemals erbringen», sagt Olbricht.
Und welche Sorte soll man nun kaufen? Ein Geheimtipp ist die Malwina. Sie stammt vom Bodensee und kommt erst sehr spät im Juli, wenn der Sommer schon gealtert ist. Ihr ausgeprägtes Erdbeeraroma macht sie zu einer Delikatesse, Süsse und Säure harmonieren perfekt. Die dunkelroten, fast überreifen Früchte sind das Beste, was der Sommer zu bieten hat. Ihr Geheimnis: Die Urgrossmutter von Malwina ist – die Mieze.
nzz.ch